Historie
50 Jahre Lebenshilfe
Artikel im Flensburger Tageblatt vom 27.10.2012
Artikel in Flensborg Avis vom 22.10.2013
Lebenshilfe gestern – heute – morgen
Vortrag zum 50-jährigen Jubiläum der Lebenshilfe Flensburg und Umgebung e. V.
Am 27.09.1962 erschien unter der Überschrift „Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind“ folgende Meldung im Flensburger Tageblatt:
In Flensburg wurde die 77. Ortsvereinigung gegründet. Am 24. September gründete der Bund „Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind“ seine 77. Ortsvereinigung. Die Gründungsversammlung fand im Vorführraum der Stadtbildstelle in der Jürgensgarderstraße statt, wo sich auch die Sprachschule befindet.
Zugegen war auch der Holländer Tom Mutters – heute 95 Jahre alt – der Gründer und Geschäftsführer des Bundes Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind e. V. Er plädierte in seinem Vortrag für eine möglichst frühe Förderung von Kindern mit Behinderung, für ein Schulpflichtgesetz, für berufliche Bildung sowie Arbeit von Menschen mit Behinderung. Und: Eltern sollen nicht wegschauen, wenn sich ihr Kind nicht erwartungsgemäß entwickelt. Um das durchzuhalten bedürfe es des Zusammenschlusses und gegenseitiger Unterstützung.
Zitat Tom Mutters: „Es ist ein langer Weg, das lebensunwerte Leben lebenswert zu machen.”
Nach dem Vortrag folgten eine angeregte Diskussion und die Vereinsgründung sowie die Vorstandswahl. Erste Vorsitzende wurde Frau Ursula Petersen – heute 90, Ehrenvorsitzende der Lebenshilfe Flensburg und Umgebung und unser Gast.
Damit waren zunächst die wesentlichen Themen der künftigen politischen und praktischen Auseinandersetzung der Lebenshilfe mit der bundesrepublikanischen Gesellschaft umrissen und die erste Protagonistin in Flensburg benannt.
Soweit, so gut. Die Fakten lassen sich relativ lapidar aufzählen. Meine Vorgänger waren neben Frau Petersen
- Kurt Pahnke
- Herbert Fries
- Claus Stuhlmann
- Johann Kernast
Nur: Diese waren nicht allein. Was haben die Menschen in der Lebenshilfe, in aller Regel Eltern von Kindern mit geistiger Behinderung tatsächlich getan.
Sie haben sich vor dem Hintergrund der Euthanasie geoutet. So würde man das heute nennen. Die Botschaft: Wir haben ein Kind mit geistiger Behinderung und wir stehen dazu. Und wir wollen, dass es sich unter der Bedingung von Behinderung optimal entwickeln kann.
Das war das Neue. Das war die gesellschaftliche Innovation Lebenshilfe.
Zunächst ging die Lebenshilfe daran, Schritt für Schritt die Grundversorgung sicherzustellen.
Es folgte unter dem Vorsitz von Kurt Pahnke, gleichzeitig Synodaler in Flensburg, 1964 die Gründung der beschützenden Werkstätte, dem Vorläufer des Holländerhofes, gemeinsam mit der Propstei Flensburg.
Bekanntlich wurde aus Protest gegen die Zuzahlungspflicht zur Eingliederungshilfe bei entsprechendem Einkommen der Eltern 1966 die Mürwiker Werkstätte gegründet.
Unter Herbert Fries setzte der politische Kampf ein, der den 1963 in der Löhmannschule etablierten Sonderhort für nicht beschulbare Kinder in eine staatliche Regelschule für Menschen mit geistiger Behinderung überführen sollte.
In der Folge ging es um die Realisierung einer Möglichkeit vorschulischer Förderung. Die Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind und der Verein zur Betreuung gründeten gemeinsam den Verein Sonderkindergarten Adelby e. V., der dem Sonderkindergarten zunächst in Langberg eine neue Heimat gab.
Darüber hinaus überführte die Lebenshilfe Freizeitaktivitäten für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung 1981 im Munketoft in ein eigenes Freizeitzentrum als Haus der offenen Tür.
Unter diesem Blickwinkel setzt mit der Notwendigkeit der Versorgung steigender Zahlen von Menschen mit geistiger Behinderung das Wachstum der vorhandenen Einrichtungen ein. Neue mit ergänzenden Angeboten werden gegründet. Politische Akzeptanz setzt ein als das Ergebnis jahrelanger Auseinandersetzung und Bemühungen.
Damit waren die wesentlichen Strukturen der Behindertenhilfe in Flensburg gesetzt und es setzte das Wachstum der gegründeten Einrichtungen in den 80er und 90er Jahren ein Fakt ist, dass die Lebenshilfe Flensburg und Umgebung an allen wesentlichen Gründungen der Behindertenhilfe in Flensburg innovativ beteiligt war, sich jedoch aus unterschiedlichsten Gründen nicht als strukturgebende Kraft etablieren konnte. Sie war jedoch prominent im Hinblick auf Freizeitgestaltung wahrnehmbar.
Die Themen der Behindertenhilfe drangen in die Öffentlichkeit vor, in Funk und Fernsehen bspw. mit der Fernsehserie „Unser Walter“ mit Cornelia Froboess und der Aktion Sorgenkind mit Wim Thoelke und Walter Sparbier. Im NDR wurde die Lebenshilfe Flensburg von Wilhelm Wieben zu einer Hörfunksendung eingeladen.
Es etablierte sich Sprachfähigkeit zum Thema unter der Parole des sich Kümmerns um Sorgenkinder.
Unter diesem Label wurde geistige Behinderung ein Thema der sozialpolitischen Auseinandersetzung wie auch Thema von Spenden im Sinne von sozialem Engagement nicht Betroffener.
Das Klima wandelte sich. Spenden flossen und sicherten immer wieder die Arbeit der Lebenshilfe ab. Beckenbauer, Rotary Club Flensburg, Lions Club Flensburg Fördestadt sowie das örtliche Handwerk wechselten sich dankenswerterweise darin ab, Busse und Ausflüge zu finanzieren.
Die Unterschiedlichsten Akteure wie Bundeswehr, Kirchengemeinden, Schulen mit ihren Schülervertretungen sowie Gewerkschaftsgruppen engagierten sich für Menschen mit Behinderungen und die Aktivitäten der Lebenshilfe. Vielleicht erinnert sich so mancher auch an die Lotterie auf dem Südermarkt, die zu ihrer Zeit ein Übriges tat.
Die Organisation von Freizeit war die Basis von zweierlei. Zum einen begünstigte sie die Weiterentwicklung der Lebenshilfe zum Träger eines Hortes, den Auf- und Ausbau des FED. Die Lebenshilfe besetzte die Nischen, die im Portfolio der großen Anbieter nicht vorkamen.
Darüber hinaus trägt Jugendarbeit ja auch Früchte. Jugendliche werden erwachsen und – selbst Vereinsmitglieder. Damit setzt eine Entwicklung ein, die wieder etwas Neues, wiederum Innovatives darstellt.
Bislang waren Menschen mit geistiger Behinderung selbst nicht die Interviewpartner der Presse. Man berichtete über die Kümmerer, weil – Sorgenkind. Das reichte aus, um die ideologischen Bedürfnisse des Lesers zu befriedigen.
Jedoch: Man soll es kaum glauben. Menschen mit geistiger Behinderung haben selbst etwas zu sagen. Hierfür eine Plattform zu bieten, ist eine neue Aufgabe der Lebenshilfe. Selbstorganisation, Menschen mit Behinderung selbst als Subjekt ihres Lebens wird zum Thema.
Selbstständigwerden steht in jedem pädagogischen Konzept und – wer hätte es gedacht: Manchmal klappt es sogar. Menschen mit Behinderung übernehmen Verantwortung als Mitglieder der Lebenshilfe, wirken mit in Vorstand und Beirat.
Veranstaltungen und Projekte wie Circus Mensch, Schauspiel Mensch und inklusives Theater haben diesen Zug mit aufs Gleis gesetzt haben. Die Zeitung Offen und Offen-TV in Zusammenarbeit mit dem Offenen Kanal Flensburg unter Nutzung von YouTube sind derzeit Medien, mit denen sich Menschen mit Behinderung selbst gesellschaftlich inkludieren.
In der Logik dieser Entwicklung lag auch die Restrukturierung der Lebenshilfe 2008. Der Verein gründete seine bisherige Aktivität als Träger in eine GmbH aus, so dass der Verein Lebenshilfe vor der Frage nach einer neu inhaltlich orientierten Zukunft als Verband von Interessenvertretung stand.
Welche Themen wurden in diesem Kontext relevant? Zum einen die Kommunalisierung der Eingliederungshilfe. Die Lebenshilfe Flensburg bot das Forum, auf dem Kommunalpolitiker die Möglichkeit bekamen, mit Menschen mit Behinderung, ihren Eltern und Betreuern im Gespräch zu erforschen, mit wem sie es künftig zu tun haben.
Dies führte u. a. dazu, dass der FC Rat nicht mehr wie früher gegen eine Auswahl von Fußballern des Landtages zugunsten der Sorgenkinder spielt, sondern beim jährlichen Fußballturnier der Lebenshilfe gegen mittlerweile selbstbewusst aufspielende Fußballer mit geistiger Behinderung durchaus auch schon Niederlagen einstecken musste.
Menschen mit Behinderung, Eltern und Betreuer nutzen derzeit die Lebenshilfe als politisches Forum, um das Thema Wohnen neu aufzugreifen und sich einzumischen.
Und: Unsere auf der letzten Mitgliederversammlung beschlossene Programmkommission diskutiert derzeit darüber, wie Lebenshilfe auch wieder Lebenshilfe im praktischen Sinne werden kann. Frühzeitiger Erfahrungsaustausch, Tipps im Umgang mit verschiedenen Leistungsträgern und –erbringern, gegenseitige Unterstützung – all das ist wichtig und sinnvoll.
Die Struktur der Behindertenhilfe in Flensburg, in der die Lebenshilfe gerade nicht die Rolle eines großen Trägers spielt, bietet die Möglichkeit, dass Menschen mit Behinderung, ihre Angehörigen und Betreuer sich über die Lebenshilfe selbstbewusst organisieren, ihre Vorstellung von Zukunft entwickeln und sich diesbezüglich in alle Richtungen zu Wort melden.
Das ist Perspektive.
Denkt man dies landesweit, dann erwacht ein schlafender Riese. In Schleswig Holstein gibt es 30.000 Menschen, die ihr Recht auf Eingliederungshilfe wahrnehmen. Daran hängen 15.000 Arbeitsplätze. Wenn diese 45.000 Menschen auch nur etwa 10 Verwandte und Freunde haben, die mit ihnen sympathisieren, so sind das mindestens 400.000 Wähler allein in Schleswig-Holstein.
Es geht somit nicht um Inklusionspolitik sondern um Politik als Inklusion, auf die wir nicht warten, sondern die wir selbst gestalten.
Und: In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach sozialpolitischen Bündnispartnern. Denn: Die Parole „Ich und mein Kind“ trug politisch nur unter dem Aspekt von Wiedergutmachung, der zunehmend in den Hintergrund tritt.
Die Beantwortung dieser Frage ist noch offen und bedarf neuer politischer Orientierung.
Packen wir’s also an.